ESSAY

Dimensionen

In einer komplexen Welt braucht es viele Perspektiven, um Zukunft zu ermöglichen. Nachhaltigkeit ist Vielfalt.

Von Wolf Lotter

Was sollte man machen, um das Morgen möglichst gut gestalten zu können? Solche Fragen beschäftigen nach dem Zweiten Weltkrieg die Futurologen, die Zukunftsforscher, vor allem in den wohlhabend gewordenen westlichen Ländern. Die Zukunft hatte Konjunktur, man hatte es zu etwas gebracht, aber noch lange nicht genug - alles sollte ewig so weiter gehen, immer mehr vom Gleichen - das war das Programm der alten Konsumgesellschaft. Das hatte ja durchaus seine Berechtigung, denn viele hatten nichts oder sehr wenig. Die materiellen Bedürfnisse bestimmten den Blick auf die Zukunft, und das tun sie gewiss auch heute. Damals aber steckte die Wohlstandsgesellschaft erst in den Kinderschuhen, sie hatte noch nicht mal ihre Pubertät, die rund ums Jahr 1968 stattfand, politisch, kulturell, sozial. Und das Morgen war eine endlose Verlängerung der Gegenwart, nur mehr davon. Neue Perspektiven - die waren wie die alten Aussichten, nur reichhaltiger. Das Leitbild dieser Zeit waren Techniker und Manager, Leute, die in der Lage waren, den Wohlstand zu schaffen und zu organisieren.

Aber dann kamen die Zweifel, am immer mehr und am immer höher, schneller, weiter. Nein, es geht nicht um eine einfache Wachstumskritik, so simpel ist es nicht. Es geht darum, dass sich im Übergang zur Wissensgesellschaft, in der Transformation, in der wir uns befinden also, allmählich aus dem Bedürfnis nach mehr Quantität immer öfter der Wunsch nach höherer Qualität ableitet. Qualität ist eine persönliche Sache. Früher sagte man: Unsere Kinder sollen es mal besser haben und meinte: mehr von dem, was für uns knapp ist. Heute wünschen sich Eltern für ihre Kinder vor allen Dingen, dass sie ein gelungenes, ihnen entsprechendes Leben führen. Die neue Perspektive ist menschlich im eigentlichen Sinne: Es geht um die Person, die wichtigste Ressource der Wissensgesellschaft und des 21. Jahrhunderts.

Es geht um die Person, die wichtigste Ressource der Wissensgesellschaft - und des 21. Jahrhunderts.

Welchen Beruf sollte man sich da eigentlich als Leitbild wählen? Wie wäre es denn mit dem Förster? Das klingt ein wenig nach Ausstieg, aber vielleicht ist es genau das Gegenteil davon. Der Förster kann das Große und Ganze - den Wald - und das wichtige Detail - den Baum - ohne Widerspruch denken. Förster denken nicht in Vereinheitlichung, sondern in Differenz, nicht in einer Lösung, sondern in vielen. Förster denken in Zusammenhängen, sie sind kontextkompetent. Genau das muss Nachhaltigkeit sein, um die Probleme von heute und morgen lösen zu können. Nachhaltigkeit, ursprünglich ein Begriff aus der Forstwirtschaft, bedeutet, dass wir nicht nur handeln, sondern auch über die Folgen unseres Handelns nachdenken. Dabei geht es nicht um ewiges Hadern und Nichtentscheiden, im Gegenteil. Es geht um jenes konstruktive Zweifeln, das der Vater der Aufklärung, René Descartes, als „der Weisheit Anfang“ nannte.

Nachhaltigkeit ist nicht Planwirtschaft. Wir wissen nicht, was morgen geschieht - und eigentlich sollten wir nicht erst eine Krise wie jene der Pandemie hinter uns gelassen haben, um das zu wissen. Pläne haben ihre Berechtigung, aber ihre engen Grenzen, und die sind in einer Welt, in der Komplexität zur wichtigsten Ressource von Innovation und Problemlösung wird, durchaus überschaubar. Das kritische Zweifeln an dem, was ist, soll uns nicht aus der Bahn werfen, sondern die Tür für Neues aufmachen. Das ist ein wichtigstes und grundlegendes Denkprinzip der Aufklärung und damit der Wissensgesellschaft und ihrer Ökonomie, die in dieser Tradition steht. Man muss den Wald und die Bäume sehen, und man muss das scheinbare Dickicht, die Komplexität, nicht fürchten, sondern nutzen, durchforsten im Wortsinn. Dann ergeben sich plötzlich dort, wo die Zukunft nur als Bedrohung erscheint, großartige Perspektiven. Nein, wir kennen die Lösungen auf die Fragen nach den Problemen von heute und morgen nicht alle, aber wir kennen das konstruktive Zweifeln.

Nachhaltiges Denken bedeutet, sich so gut wie möglich vorzubereiten auf Entdeckungen und neue Perspektiven.

Nachhaltiges Denken bedeutet, sich so gut wie möglich vorzubereiten auf Entdeckungen und neue Perspektiven. Man muss überraschungsfähig sein, nicht einfach nur die Baupläne für eine heute gedachte Zukunft abarbeiten. Das wird scheitern. Was gelingt ist, die Welt mit offenen Augen in seinen Kopf zu lassen. Nachhaltiges Denken bedeutet flexibles Denken, kritisches Fragen, wohin das führt, was wir heute tun, aber auch lassen - was in vielen Diskussionen zu kurz kommt. Das Denkprinzip des nachhaltigen, kritischen Erkennens spiegelt sich in dem Begriff der Serendipität wider, die der amerikanische Psychologe Robert Merton geprägt hat. Serendipity - das bedeutet auf Deutsch so viel wie glücklicher Zufall. Kolumbus sucht Indien, landet aber in Amerika.

Entdeckungen, die unser Leben verbessern, machen wir dann, wenn wir die Augen offenhalten, das Dickicht nicht als Hindernis, sondern als Ressource für neue Ideen nutzen. Der Förster, der in uns allen steckt, die wir die Wissensgesellschaft begreifen und gestalten lernen, der weiß: „Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist.“ Anders gesagt: Wir bereiten uns durch unser Einlassen auf Diversity, auf Vielfalt, auf Komplexität, auf viele Lösungsalternativen, auf offene, kritische Fragen darauf vor, die Entdeckung, wenn wir sie machen, auch als solche zu erkennen - und nicht links liegen zu lassen. Wir sehen die Zusammenhänge, wenn wir gelernt haben, auf das Detail, auf die Qualität zu sehen. Nachhaltigkeit, kritisches Denken, es dient der Unterscheidung und dem Verstehen von Zusammenhängen. Wir kommen mit der Welt besser zurecht, wenn wir sie in einem menschlichen Maß denken. Die richtige, nachhaltige Perspektive ist kein Highway in die Zukunft, sondern ein Wege- und Straßennetz, eine Unmenge an Pfaden und Verbindungen zu dem, was den Menschen wichtig ist und wohin das Individuum will. Die neue Perspektive hat offene Horizonte. Genau deshalb finden wir uns in ihr wieder. Sie ist keine Norm. Und damit hat sie menschliches Maß.

Wolf Lotter
Wirtschaftsjournalist und Buchautor

Seit vielen Jahren ist Wolf Lotter gefragter Keynoter bei Unternehmen, Ministerien, Verbänden, politischen Parteien und Stiftungen. Dabei spricht er sich für einen nüchternen optimistischen Umgang mit Zukunftsthemen aus und gegen alarmistische und pessimistische Szenarien.